In Berlin hat heute der Schulalltag begonnen – Anlass für eine Reflexion zur aktuellen Schuldebatte. Dieser Artikel erscheint in verkürzter Form auch im kommenden Juliversum.
Es gibt eine Geschichte, die beginnt so: Das Lügen wurde nie erfunden, die ganze Welt ist ehrlich bis aufs Mark. Und damit auch brutal. Schon Kinder werden als Versager oder Sieger klassifiziert, Makel tragen sie nicht nur mit sich herum, sie werden auch ständig darauf angesprochen. „Ich liebe dich zwar, wünschte aber eine klügere Tochter zur Welt gebracht zu haben“, könnte die Mutter ihrer fünfjährigen, etwas tollpatschigen Tochter an den Kopf werfen. Einfach so. Weil es ihr gerade in den Sinn kam. Das Innerste wird nach außen gekehrt, und gerade deshalb bleibt kein Platz zum Menschsein: Man ist gemein zueinander und findet sich damit ab.
Die Schule ist ein ähnlicher Ort. Von Beginn an gibt es die „Guten“ und die „Schwächeren“, die „Braven“ und die „Chaotischen“. Noten sind die Key Performance Indicators, der Betrieb Schule steuert damit, was mit den Kindern geschieht: Die einen werden mit zehn oder zwölf in die Hauptschule abgeschoben, die anderen dürfen schon mal vom unbeschwerten Studentenleben träumen.
Natürlich, Eltern haben bei dieser Entscheidung das letzte Wort (alternativ auch ein Lostopf, den man sich als beklebten Schuhkarton mit hastig ausgeschnittenen Namenszetteln vorstellen muss).
Aber das bedingt, dass sich Eltern auch für ihren Nachwuchs einsetzen, dass sie interessiert, was sie in der Schule lernen und wie sie dies tun. Meistens sind dies diejenigen, die auf dem Sommerfest bereitwillig am rauchigen Grillstand stehen und im Kreis der „Freunde der Schiller-Oberschule“ einen Umbau der Aula zu einem kombinierten Mehrzweckbereich – wieso nicht auch für musische Tätigkeiten? – anmahnen. Auch sonst kümmern sie sich darum, dass die lieben Kleinen auf die richtige Schule und in den richtigen Bezirk kommen. Sie ziehen sogar aus der geräumigen Eigentumswohnung in Tempelhof, die sie vom Urgroßvater geerbt haben, in eine kleine Behausung am Kollwitzplatz, weil eine gute Schule in der Nähe ist und das Milieu einfach besser passt und ein Mutter-Kind-Yogakurs jeden Montag Abend lockt. Dienstage sind für die Theatergruppe reserviert, mittwochs ist Familienabend, donnerstags Ballet, freitags werden Freunde eingeladen, samstags die Großeltern in Potsdam besucht, Sonntage sind zur Entspannung da.
Solche Eltern existieren nicht wirklich. Aber doch stimmt, dass das Leben vieler Kinder minutiös vorgeplant wird, auch für Eskapaden wird verständnisvoll Platz reserviert: „Er ist in der Pubertät, da testet man auch mal seine Grenzen“. Es gibt auch das andere Extrem: Zum Beispiel die sechzehnjährige Tochter, die schon immer ihre kleine Schwester erzieht, weil der Vater abgehauen und die Mutter zur Alkoholikerin geworden ist. Ferien am Strand kennt sie nur vom Wannsee, bei Fragen zur Zinseszinsrechnung fühlt sich die Mutter bloßgestellt und blafft ihre Tochter an, sie soll sich nicht einbilden, etwas Besseres zu sein, nur weil sie aufs Gymnasium geht. Wie sollen diese Kinder ernsthaft mithalten können mit Sprösslingen aus besserem Hause?
Diese Frage ist nicht einfach beiseite zu schieben mit dem Argument, jeder werde gebraucht, denn eine Firma bräuchte dreierlei Menschen: die einen bedienen die Maschine, die anderen reparieren und die dritten konstruieren sie. Unsere Umwelt wird immer schneller immer komplexer; soziologisch, ökonomisch, politisch und in allen anderen Bereichen, die auf „-isch“ enden. Das bedingt eine höhere Bereitschaft zur Flexibilität, aus unbefristeter Beschäftigung wird Zeitarbeit, aus Unternehmenskarriere wird Jobhopping. Diese Entwicklung trifft besonders diejenigen hart, die nicht mit Spezialwissen aufwarten können, die sich nicht unabdingbar gemacht haben für ein Unternehmen, an deren Stelle als Putzhilfe zehn andere rücken würden, und das zu einem etwas niedrigeren Lohn.
Wir müssen als Gesellschaft – zumal als alternde, schrumpfende Gesellschaft – eine reale Perspektive schaffen für alle, die etwas leisten wollen und können. Und das ist potenziell die gesamte Bevölkerung. Hinter jedem Prozent, das in einem Jahrgang keinen Schulabschluss schafft, stecken zehntausende junge Menschen, die keine Perspektive haben. Aus volkswirtschaftlicher Sicht ist das verbranntes Kapital.
Gleichzeitig müssen wir das Potenzial der Klügsten und Fleißigsten unter uns ausschöpfen, sie fördern und genügend belohnen, um im globalen Wettbewerb der Innovationen weiterhin vorne mitzuspielen. Und beim Blick fürs Ganze dürfen wir das Menschsein nicht vergessen.
Schulen sollten deshalb nicht in C&A und P&C getrennt sein, um ein Bild aus der Bekleidungsindustrie zu bemühen: Hier die billige Ware, dort die anspruchsvolle (aber doch auch Standardware), säuberlich aufgeteilt nach funktionalen Merkmalen – Sport, Casual, Unterwäsche – und sortiert nach Formen, Farben und Größen. Eine Schule sollte sein wie eine Schneiderin: Sie nimmt Maß, bespricht den Plan gemeinsam mit dem Kunden, unterbreitet zum Typ passende Vorschläge, und setzt das vereinbarte Konzept handwerklich ordentlich, manchmal kunstvoll, um.
Ob das für das klassische System aus Haupt- und Realschulen sowie Gymnasien spricht? Für eine Gemeinschaftsschule mit Betreuungsangebot am Nachmittag? Für ein anderes Modell? So klar lässt sich das nicht sagen, und vielleicht ist die Frage der Struktur auch nicht die entscheidende: Wichtig ist ein intelligentes Schulangebot, das sich nach den Bedürfnissen jedes Kindes richtet, das reflektiert und lokal entscheidet, das Schüler bewertet – nicht um sie zu sortieren, sondern um sie in ihren Schwächen zu fördern und in ihren Stärken zu fordern.
Es gehört noch viel mehr dazu, sicherlich. Doch wäre damit nicht das Exposé skizziert für eine phantastische Geschichte?